Die „spezifisch“ deutsche Kultur – oder doch gar keine?

Deutsche Sprache – schwere Sprache, und das meine ich nicht polemisch. Das Schöne an der deutschen Sprache ist, dass sie von Dichtern und Denkern geprägt wurde, und dementsprechend Formulierungen mit hoher Dichte bei gleichzeitiger Präzision erlaubt.

Man lese aber einen Philosophen wie Immanuel Kant, und schon merkt man sehr schnell (wenn man wie ich kein Megahirn à la Kant ist), dass diese Eigenschaft unserer Sprache leider nicht immer angenehm und vorteilhaft ist. Ich denke mit Grauen an meine Schulzeit zurück. Mein Gehirn wurde erst wieder in gleicher Weise gewürgt, als ich versucht habe, einige effiziente Algorithmen zu verstehen1. Kein Wunder, dass ich mich eher der praktischen als der theoretischen Informatik zugewendet habe …

Nun genug der übermäßig langen Einleitung. Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgendem Absatz aus einem Gastartikel für den Tagesspiegel, verfasst von Aydan Özoğuz, SPD-Mitglied und Integrationsbeauftragte des Bundes: 

Deutschland ist vielfältig und das ist manchen zu kompliziert. Im Wechsel der Jahreszeiten wird deshalb eine Leitkultur eingefordert, die für Ordnung und Orientierung sorgen soll. Sobald diese Leitkultur aber inhaltlich gefüllt wird, gleitet die Debatte ins Lächerliche und Absurde, die Vorschläge verkommen zum Klischee des Deutschsein. Kein Wunder, denn eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar. Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt. Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt.

Ich zitiere absichtlich den ganzen Absatz, weil alleine der Kontext des Absatzes für die Interpretation jeden Satzes unerlässlich ist (siehe Artikel über Rezeption von Aussagen). Der Absatz beschäftigt sich damit, dass eine ernsthafte Debatte über die Inhalte einer „Leitkultur“ nur schwerlich möglich ist, weil diese irgendwie ins „Lächerliche und Absurde“ abgleitet. Warum dies geschieht, versucht Frau Özoğuz dann zu erläutern. Es ging ihr also, alleine durch Kenntnis des Absatzes begründet, niemals darum, die deutsche Kultur an sich in Frage zu stellen, sondern nur die Debatte um die „Leitkultur“.

Das schwerwiegendste Missverständnis kommt aber durch das kleine und perfide Wort spezifisch. Als Informatiker leidet man oftmals unter Wörtern wie spezifizieren oder  Spezifikation (oder besser unter deren Nicht-Vorhandensein), daher habe ich wohl bezüglich der Bedeutung des Wortes ein etwas geschärftes Augenmerk im Gegensatz zum Durchschnitt unserer Gesellschaft. Wem die Bedeutung des Wortes also nicht ins Auge gesprungen ist, muss sich noch lange keine Sorgen um seine Deutschkenntnisse machen (könnt ihr mir sagen, ob dieses Komma jetzt richtig oder falsch war?). Bitte fühlen Sie sich auch nicht von mir belehrt, auch wenn ich wie immer so klinge, als wolle ich belehren. Ich möchte nur ein Missverständnis aufklären, dass viel böses Blut erzeugt hat (Mist, meine dass/das-Schwäche hat wieder zugeschlagen). Und wenn ich eines nicht dauerhaft ertragen kann, dann böses Blut, das nicht unbedingt sein müsste!

Google spuckt zum Wort spezifisch Folgendes aus:
Es geht also um etwas Charakteristisches oder Typisches aus der deutschen Kultur. Ein Merkmal, anhand dessen die deutsche Kultur von allen anderen Kulturen unterschieden werden kann (so wie man eine Art von einer anderen unterscheiden kann). Alles, was die deutsche Kultur mit den Kulturen anderer Länder gemein hat, ist also per Definition nicht spezifisch deutsch.

Es ging also nicht um die deutsche Kultur im Allgemeinen, sondern im Spezifischen! Wobei hier allgemein und spezifisch tatsächlich als Gegensatz verstanden werden kann. Wer den Absatz von Frau Özoğuz gründlich gelesen und sie missverstanden hat, muss entweder nur durchschnittliche Deutschkenntnisse besitzen oder eine recht große Anzahl an Vorurteilen haben. Letzteres soll sich benebelnd auf das Sprachzentrum auswirken, habe ich gehört. Und da ich mich leider mit Störungen des Sprachzentrums auskenne: Seien Sie froh, wenn Sie diese so schnell wie möglich wieder loswerden können!

Googeln Sie einfach nach „spezifisch deutsche Kultur„, und Sie finden schnell heraus, wer an dem einen oder anderen Symptom leidet:

Noch besser:  Googlen Sie nach „keine deutsche Kultur„, aber in Anführungszeichen (um die drei Begriffe nur direkt hintereinander zu suchen). Und die Trefferliste zeigt eindrucksvoll viele Medien, die sich als Verfechter der „deutschen Leitkultur“ sehen:

Lustigerweise hat außer den einschlägigen Medien-Kandidaten niemand Özoğuz so eklatant missverstanden, dass er behaupten würde, sie hätte gesagt, es gäbe keine deutsche Kultur. Ist auch nicht verwunderlich. Denn man könnte genauso gut behaupten, es gäbe keine Luft in Deutschland. Darauf würden aber wahrscheinlich selbst die Leser der einschlägigen Medien nicht reinfallen.

  1. wie z.B. Algorithmen um kürzeste Pfade zu finden, wie sie jedes Navi mit Leichtigkeit beherrscht
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4 Kommentare zu Die „spezifisch“ deutsche Kultur – oder doch gar keine?

  1. Ben sagt:

    Das schöne an Generalaussagen ist ja, dass schon ein einziges Gegenbeispiel reicht, um sie zu entkräftigen.

    Bei der angeblich so erfolglosen Suche nach einem spezifischen Merkmal der deutschen Kultur kann ich daher problemlos abhelfen. Die mahnende deutsche Erinnerungskultur und die intensive Beschäftigung mit den dunkelsten Jahre der Geschichte unseres Landes ist weltweit einmalig, und somit spezifisch für unsere Kultur. Typisch Deutsch eben. Das, und die Reservierung der besten Strandliegen mittels Handtüchern in aller Herrgottsfrühe! So. Job erledigt. Das hat mich jetzt ungefähr zwei Sekunden Nachdenken gekostet. Gegenbeispiel geliefert, damit dürfte das Thema erledigt sein, oder?

    Tja, und genau deswegen sollte jeder, der nicht vom hohen Ross heruntergestoßen werden möchte, vieleicht einfach mal davon herunter kommen, und mit den Leuten auf Augenhöhe diskutieren. Nur so als unverbindlicher Ratschlag, der mir spontan in den Sinn kommt, wenn ich mir den doch recht selbstgewissen Tonfall dieses Blogeintrags so durchlese. Sonst kann ich nämlich meinerseits auch mal richtig unangenehm werden, und die bisher außen vor gelassen Sandalen mit den weißen Tennissocken ins Spiel bringen…

  2. Immanuel sagt:

    Hallo! Ist Ihnen aufgefallen, dass ich inhaltlich zu der Debatte überhaupt keine Stellung bezogen habe? Ich habe mich lediglich mit einem sprachlichen Missverständnis beschäftigt, dass leider sehr weit verbreitet ist.

    „schlicht NICHT identifizierbar“ war in der Tat fälschlicherweise kategorisch. SCHWER ist besser.
    https://twitter.com/SeinU_NichtSein/status/915900161368477697

  3. Walter sagt:

    Dem Autor ist zu danken für diese wichtige Differenzierung. Ich frage mich: Macht die Aussage von Frau Özuguz auf dem Hintergrund dieser Definition von „spezifisch“ mehr Sinn? Wenn das Attribut „spezifisch“ in diesem engen logischen Sinn von absolutem Ausschluss definiert wird, ist es zwar schwierig, spezifisch deutsche Kulturmerkmale zu identifizieren. Warum soll dies dann aber gerade in der Sprache möglich sein, wie Frau Özuguz behauptet? Unsere Sprache erwächst ebenso wie Musik, Bildende Kunst oder andere kulturelle Komplexe einem europäischen Kulturkreis und ist mit diesem eng verbunden. Das spezifisch Deutsche würde man in dieser engen Definition auch in der Sprache nur schwer finden. Das gleiche gilt für regionale Kulturen, denen Frau Özuguz bekanntlich den Vorzug gibt gegenüber nationalen Identitäten. Auch diese sind streng genommen nicht identifizierbar, weil sie sich immer weiter reduzieren ließen – ad infinitum.
    Nochmal Immanuels Definition: „Alles, was die deutsche Kultur mit den Kulturen anderer Länder gemein hat, ist also per Definition nicht spezifisch deutsch.“ Ist ein solcher Begriff von „spezifisch“ im Bezug auf kulturelle Äußerungen sinnvoll? Nein, ist er nicht. Kulturelle Einheiten haben unscharfe Ränder. Streng genommen ist nichts an ihnen vollständig spezifisch. Ein Gemeinsames lässt sich in kulturellen Äußerungen immer finden. Der Begriff „spezifisch“ wäre streng genommen sinnlos im Zusammenhang menschlicher Lebensäußerungen.
    Wenn keine echten Spezifika identifizierbar sind, sprich begrifflich benennbar sind, heißt das aber nicht zwangsläufig, dass sie nicht existieren. Die Praxis unserer Wahrnehmung leiten sie sehr wohl – und das zu Recht. In der Philosophie wird das Problem gerne (z.B. bei Wittgenstein) am Beispiel der Familienähnlichkeit verdeutlicht. Wir erkennen oftmals auf einen Blick Bruder und Schwester. Wenn wir aber gezwungen sind, die spezifische Familienähnlichkeit begrifflich zu definieren, geraten wir auf sehr dünnes Eis und unsere begrifflichen Bestimmungen werden unscharf. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass die Spezifika der Familienähnlichkeit nicht identifizierbar sind und daher vielleicht gar nicht existieren, ist aber Unsinn.
    Genau das ist es, was Frau Özuguz macht. Weil es schwer fällt, das spezifisch Deutsche z. B eines Faßbinder-Filmes begrifflich zu definieren, würde sie im Zweifelsfall sagen, dass diese Spezifika eigentlich nicht identifizierbar sind und daher – das will sie ja eigentlich sagen – nicht existieren, sondern nur den Unterstellungen unserer latent nationalistischen Gesinnung entspringen. Dass aber z. B. Faßbinders Filme unter bestimmten filmsprachlichen Gesichtspunkten ausdrücklich Beiträge zu einer spezifisch deutschen Filmkultur sind, wissen wir so sicher wie das Amen in der Kirche. Faßbinder sah sich selbst übrigens auch als radikale Neuinterpreation einer spezifisch deutschen Kultur.

  4. Immanuel sagt:

    Lieber Walter, danke für deinen Kommentar!

    Du hast vollkommen recht. Wenn man es mit dem „spezifisch“ zu genau nimmt, bleibt am Ende kaum was übrig, und es ist fraglich, ob die Suche nach solchen Spezifika sinnvoll ist. Aber gerade deswegen hält Frau Özoguz die *Debatte* um die Leitkultur ja für fragwürdig: Denn steigt man detaillierter ein, zerfließen einem die Unterschiede zwischen den Händen. Dass kulturelle Unterschiede und Eigenheiten existieren (ohne sie dass man sie wirklich auseinander nehmen kann), bestreitet sie meines Erachtens auch nicht.

    Bei der Sprache übrigens bin ich anderer Meinung: Natürlich sind sich Sprachen auch sehr ähnlich, aber um eine gepflegte Konversation führen zu können, stellen fremde Sprachen ein sehr großes Hindernis dar (während z.B. Musik solche Kommunikationsschwierigkeiten nicht kennt). Auch sind in Sprache geschaffene Werke ganz spezifisch mit dieser Sprache verwoben, so dass es nur bedingt möglich ist, die großen Werke der Literatur in eine andere Sprache zu übersetzen, ohne viel von ihrem ursprünglichen Zauber zu verlieren. Goethes Faust auf Englisch lesen? Sicherlich möglich, aber doch ganz anders, als auf Deutsch.

    Wenn es um Barrieren zwischen Kulturen geht, so ist die Sprachbarriere wohl doch die größte unter ihnen.

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