Aus den Kommentaren zu meinem Beitrag „Unfehlbarkeit“ ergeben sich für mich zwei wesentliche Fragen:
- Ist die partielle1 Unfehlbarkeit eine Notwendigkeit für den Menschen?
- Vertrete ich die Weltanschauung des Skeptizismus?
Für mich sind diese zwei Fragen essentiell, weil sie den meiner Ansicht nach unvermeidlichen Bruch zwischen mir und dem Christentum verursacht haben und bis heute verursachen (ob sie dies in Zukunft weiterhin tun werden, entzieht sich meiner Kenntnis).
Das Thema der Unfehlbarkeit ist sehr eng mit dem Begriff der Sicherheit verbunden, der wiederum mit dem der Freiheit in Beziehung steht. Um eine möglichst praxisnahe Betrachtung durchzuführen, möchte ich ein alltägliches, wohl jedem gängiges Bild verwenden: Das Dach über dem Kopf.
Jeder Mensch unterscheidet sich in seinen Bedürfnissen nach Sicherheit und Freiheit. Und es gibt die unterschiedlichsten Gebäudetypen und Besitzformen, so dass eigentlich jeder Mensch etwas finden kann, das zu ihm passt: Der Mieter hat mehr Freiheit als der Eigenheimbesitzer, aber dafür weniger Sicherheit. Ein Bunker bietet mehr Schutz als ein Zelt, in jedem Fall ist aber ein trockenes Schlafzimmer in keinem Fall zu verachten.
Der vollkommene Skeptizist wird immer unter freiem Himmel schlafen, weil er sich dort sicherer als in einem Zelt, Haus oder Bunker fühlt. Mit Verlaub: Eines der schönsten Dinge ist für mich, mich nach einem anstrengenden Tag in mein warmes, sicheres Bett legen zu dürfen und seelenruhig schlafen zu können, auch wenn draußen ein Unwetter tobt. Ich bin kein Skeptizist, auch wenn ich nicht garantieren kann, dass ein Orkan nicht das Dach meiner Wohnung abdecken könnte und ich dann umziehen müsste.
Es gibt aber Lebenssituationen, in denen gewöhnliche Sicherheit nicht ausreicht: Zum Beispiel im Krieg, wenn man vor Bombenhagel Schutz suchen muss. Oder wenn wie in dem Film „Deep Impact“ ein Meteorit auf der Erde einzuschlagen droht. In diesem Fall wird die Wahl der Behausung von einer Geschmacksfrage zur Existenzfrage: Bietet die getroffene Wahl nicht ausreichend Sicherheit, ist das Schicksal des Wählers besiegelt. Die Freiheit spielt dann nur eine untergeordnete Rolle, denn was nützt einem Freiheit, wenn man sie mit dem Leben bezahlt?
Die Frage, ob eine zumindest partielle Unfehlbarkeit eine Notwendigkeit für den Menschen darstellt, ist in meinem Bild also die Frage, ob wir unbedingt einen Bunker als Zuhause benötigen. Das wiederum hängt davon ab, ob wir einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt sind, also ein Meteorit sich uns unaufhaltsam nähert, vor dem wir nur im Bunker geschützt sind. Aus christlicher Sicht ist daher die Notwendigkeit der Unfehlbarkeit eigentlich keine Frage: Der Meteorit trägt den Namen „Ewige Verdammnis“, und er wird unausweichlich denen den Garaus machen (leider nicht ganz), die sich zum Zeitpunkt des Einschlags nicht im Bunker mit der Aufschrift „Jesus = Gott“ befunden haben.
Die größte Gefahr für das Christentum ist die abnehmende Akzeptanz des Konzepts der Ewigen Verdammnis: Wenn die Gefahr, gegen die der Bunker schützt, für die Menschen außerhalb des Bunkers nicht mehr wahrnehmbar und nachvollziehbar ist, so werden sich nur wenige von sich selbst aus in den eingeschränkten Platz des Bunkers begeben, wenn sie sonst die frische Luft genießen und die ganze Welt bereisen können. Und der kulturelle Einfluss des Christentums, der zu einer allgemein verbreiteten Angst vor der Hölle geführt hat, ist im Schwinden begriffen, weshalb das stärkste Argument für den christlichen Glauben bald nur noch innerhalb des Bunkers verstanden werden wird. Die Einschätzung, ob diese Entwicklung zu begrüßen oder beklagen ist, ist jedem Leser selbst überlassen.
Ich bin der Meinung, dass diese Bunkersituation dem Binären Prinzip zu verdanken ist: Sicherheit und Freiheit werden wesensmäßig als Gegensätze behandelt, so dass Freiheit Nicht-Sicherheit wird, und Sicherheit Nicht-Freiheit bedeutet2.
Meines Erachtens verhält sich aber die Sicherheit zur Freiheit, wie der Teilchen-Charakter des Lichts zu dessen Wellen-Charakter: Wir können in der Form dieser Welt immer nur einen der beiden Aspekte zu einer Zeit untersuchen oder beleuchten (weshalb wir keine genaue Definition des Zusammenhangs geben können). Aber es handelt sich um zwei Seiten der gleichen Medaille, um zwei verschiedene Ausdrucksformen einer Sache, die wir wesensmäßig nicht erkennen bzw. ergreifen können.
Der Mensch, der die Freiheit zum obersten Prinzip macht, wird vogelfrei, weil er keine Sicherheit kennt. Der Mensch, der die Sicherheit zum obersten Prinzip macht, wird sicher unfrei, weil die Freiheit eine Gefahr für ihn darstellt.
Der vollkommene Mensch aber ist vollkommen frei und vollkommen sicher. Seine Sicherheit ist seine Freiheit, und seine Freiheit macht in sicher. In der Form dieser Welt ist aber die Grenze meiner Freiheit die Freiheit meines Nächsten, weshalb die Freiheit nicht vollkommen ist. Die vollkommene Freiheit könnte nur dann erreicht werden, wenn die Freiheit meines Nächsten nicht mehr im Widerspruch zu meiner Freiheit stünde. Das wäre dann das Paradies.
Fußnoten:
- Kaum ein Mensch (der Papst vielleicht ausgenommen) würde sich wohl als vollständig unfehlbar bezeichnen. Daher nenne ich das partiell oder teilweise unfehlbar. Update 10.08.2010: Danker hat freundlicherweise darauf hingewiesen, dass nur das Amt des Papstes als unfehlbar betrachtet wird, nicht der der Papst als Mensch selber. ↩
- Dies liefert eine Erklärung, warum in politischen Systemen die Sicherheit (vor allem des Systems) in der Regel auf Kosten der Freiheit geht. Das gilt nicht nur für totalitäre Systeme, sondern auch für die Systeme, die man Demokratien nennt. ↩
Nun ja, die Bibel argumentiert kaum mit einer Androhung der „ewigen Verdammnis“ sondern nennt sie nur als unausweichliche Alternative. Dein Bild der EV ist auch etwas Mittelalterlich-Bildlich.
C.S.Lewis zB beschreibt die Hölle als Platz wo Gott nicht ist, wer demnach von der EV betroffen ist, lebt also bis in alle Ewigkeit in Gottesferne, wohl im Unterschied zum Heute aber im Wissen einer besseren Alternative (Paradies als Zustand nicht kollidierender Freiheit beschreibst du ja schon sehr gut). Auf weitere Theologie dazu verzichte ich hier erst einmal, weil es etwas ausufernd wäre.
PS: Selbst in der RKK gilt der Papst, bzw der Mensch keines Falls als unfehlbar, sondern nur sein Amt.
Hallo Danker!
Ich habe es nochmal mit Strg+F überprüft: Das Wort Androhung kommt erst in deinem Kommentar vor. Woraus schließt du, dass ich von einer „Androhung“ und nicht einer „unausweichlichen Alternative“ ausgehe? Und wenn sich dadurch an den Fakten nichts ändert (der unausweichliche Meteoriteneinschlag), was für einen Unterschied macht es für dich persönlich, zu wissen, dass es sich nicht um eine „Androhung“ handelt?
„Bildlich“ war beabsichtigt, aber ich wusste nicht, dass Deep Impact mittelalterliche Assoziationen hervorruft. Könntest du etwas genauer begründen, was an meinem Bild für dich mittelalterlich ist?
Mir scheint, dass die bildliche Vorstellung von der Hölle nicht eine Erscheinung des Mittelalters ist, sondern die Bibel selbst eigentlich fast ausschließlich bildhaft über die Hölle spricht (einschließlich Jesus). Was ist aber der Vorzug eines intellektuell-abstrakten Verständnisses der Hölle, wie du es bei C.S. Lewis beobachtest (den ich übrigens sehr schätze), gegenüber der bildhaften Herangehensweise der Bibel?
nur ein paar kurze (ja ich versuch’s ;o)) Gedanken.
Skeptizismus ist nicht konsequent zu Ende denkbar und folglich inkonsistent, denn das Urteil, dass etwas nicht vertrauenswürdig ist, oder jedes andere Urteil, setzt ein Kriterium voraus, nach welchem entschieden wird. Damit wird aber diesem Kriterium vertraut. Skeptizismus setzt also Vertrauen voraus, man kann in dieser Welt, so wie sie verfasst ist, nicht skeptisch oder kritisch sein, ohne (etwas anderem) zu vertrauen. Und wenn ich mir die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie über das Urvertrauen des Kindes und seine Wichtigkeit für eine weitere ganzheitlich gesunde (persönlich psychisch (und damit körperlich, aber auch sozial gesellschaftlich) Entwicklung vor Augen führe, dann steht Skeptizismus dem Wesen des Menschen entgegen und macht krank. Ob und inwieweit du dem Skeptizismus anhängst, kannst natürlich nur du beantworten.
Kein Mensch muss unfehlbar sein, denn kein Mensch kann unfehlbar sein, denn Unfehlbarkeit (als Attribut einer Person, denn in gewissem Sinne ist natürlich auch die Wirklichkeit unfehlbar, dh unwidersprüchlich) setzt den Überblick über alle Dinge voraus, den nur Gott hat. Gott allein ist unfehlbar. Sobald Gott aber seine unfehlbare Sicht der Dinge an die Menschen übermittelt (in der Bibel, dh den Schriften von gesandten Personen (Propheten, Apostel) oder Verschriftlichungen der Botschaft von gesandten Personen (zB Markus und Lukasevangelium, hinter denen Petrus bzw. Paulus als Apostel standen)) und dafür sorgt, dass seine Übermittler die Dinge in seinem Sinne korrekt übermitteln (Inspiration), überträgt sich Gottes Unfehlbarkeit auf dieses Übermittelte und Verschriftlichte (oder im Fall der Apostel usw Verkündigte – uns ist ja nicht alle überliefert). Auf der Empfängerseite (Hörer oder Leser) reduziert sich dann das „Unfehlbarkeitsproblem“, wie du es glaub ich wahrnimmst, zu einem Kommunikationsproblem – Kommunikation kann misslingen, das ist aber nicht der Normalfall, vielmehr ist bei jedem normalen Kommunikationsereignis vorausgesetzt, dass es verstanden wird, und es gibt genügend Mittel (wie Redundanz, Explikation usw), die Kommunikationsprobleme entgegenwirken und überwinden. Konkret: Wenn Paulus an die Korinther schrieb, war beiden Seiten völlig klar, um was es ging, und Paulus schrieb genau so und genau das, was er schreiben musste, damit die Korinther alles verstanden. Problematisch wird es natürlich, je weiter man von der ursprünglichen Kommunikationssituation entfernt ist. Allerdings gibt uns die Historische Forschung ausreichend Zugang zu den zumindest Hauptpräsuppositionen (dh die Dinge, die in einer Kommunikationssituation implizit für beide Seiten klar sind und deshalb nicht expliziert werden müssen) und aufgrund des großen Korpus ist zumindest bei den Hauptpunkten der Botschaft soviel Redundanz vorhanden, dass die Kommunikation auch heute gelingen kann, dh dass die Botschaft ankommt, die Gott durch seine Gesandten übermitteln wollte und will – zumindest sofern man der normalen Hermeneutik folgt, die einem „Text“ (das ganze eines Kommunikationsereignisses) angemessen ist. Und damit ist für uns Menschen in diesen Hauptpunkten Sicherheit möglich, Gewissheit, absolute Gewissheit, über die Bedeutung der Botschaft Gottes an uns. Und dank des Heiligen Geistes in uns – gemäß der biblischen Verheißung – ist auch absolute Gewissheit und Sicherheit über die Bedeutsamkeit dieser Botschaft Gottes für das persönliche Leben möglich.
Ontologische Unfehlbarkeit aber kommt nur Gott zu, epistemologische Unfehlbarkeit nur der Bibel, an der als norma normans jedes Dogma zu prüfen ist, ob es von ihr informiert ist und ihr entspricht. Ich bin als Christ also nicht unfehlbar und benötige deshalb die Korrektur (und die Bereitschaft dazu als absolute und oberste Priorität !)durch persönlcihes Bibelstudium und kollektives, sowohl synchron (Ortsgemeinde, Freunde,…) als auch diachron (Kirchengeschichte). Wenn etwas an mir „unfehlbar“ ist, dann ist es mein Nachdenken und Übersetzen in meine Herzenssprache der biblischen Botschaft, aber dafür würde ich eher „korrekt, wahr“ sagen oder so.
Du hast sehr schön gesagt, dass weder Freiheit noch Sicherheit das oberste Prinzip werden dürfen, sondern dass beides komplementär ist. Wobei ich sagen würde, dass gesunde Freiheit Sicherheit voraussetzt (Bild des Kletteres am Seil) und gesunde Sicherheit Freiheit (sonst wäre die Sicherheit ein Gefängnis). Ich denke, dass Freiheit und Sicherheit nichts ist, was einem als Eigenschaft zukommt oder aus uns selbst kommt, sondern dass beides immer etwas Gewährtes ist. Das „oberste Prinzip“ müsste dann die Ausrichtung auf den- oder dasjenige sein, was Freiheit und Sicherhreit gewährt. In der Immanenten Sphäre wäre das die Gesellschaft oder der STaat (Joachim Gauck sprach diesbezüglich von der Verantwortung für sich und andere als reife Freiheit), in der transzendenten Sphäre Gott.
Aufgrund von Gottes Hauptwirken in dieser Welt, das uns mittels der Bibel inspiriert und damit absolut zuverlässig bekannt ist und durch den Heiligen Geist auf unser Leben angewandt wird, haben wir Sicherheit und darauf aufbauend Freiheit.
Hallo Jörg. Die Frage der Unfehlbarkeit auf die Frage der Tragfähigkeit von Kommunikation zurückzuführen, ist extrem treffsicher von dir. Ich würde mich freuen, wenn du deine Rezeption von Aussagen auch als Kommentar einbringst, dann können wir von einem empirischen Beispiel aus in das weite Feld der Kommunikationstheorie einsteigen.
Lieber Immanuel
ich verstehe „x auf y zurückführen“ so, dass y das Allgemeinere, Umfassendere ist, aus dem x folgt. Das halte ich mit x=Unfehlbarkeit und y=Kommunikation für nicht sachgemäß und habe es auch weder explizit noch implizit vertreten. Ich würde meine Gedanken dergestalt sachgemäßer zusammengefasst finden: Wenn man zwischen ontologischer und epistemologischer Ebene differenziert (meiner Ansicht nach zentral und erhellend für jede Fragestellung), kann die Frage der Unfehlbarkeit auf der epistemologischen Ebene unter Voraussetzung der Bibel als inspirierten Offenbarungszeugnissen sachgemäß REDUZIERT werden auf die Frage nach der Möglichkeit gelingender Kommunikation.
Danke für die Einladung, mich zu beteiligen. Aber da ich keinen sachgemäßen Zusammenhang zu für hier relevante Fragestellungen erkennen kann – Gedächtnisleistung einerseits und gelingendes Verstehen innerhalb von Kommunikation andererseits haben nichts miteinander zu tun -, werde ich mich nicht beteiligen. Dasselbe gilt für deine höchst interessanten GEdanken zu Herrn Sarrazin.
Gedächtnisleistung? 4 Sätze in 3 Minuten merken? Du scheinst mich ja voll zu durchschauen. Wenn du eh schon alles weißt, will ich auch nicht weiter deine kostbare Zeit in Anspruch nehmen.
Man darf beim durchaus skeptisch sein, ob Skeptizismus in seiner radikalsten Form sinnvoll ist. Um Handlungsfähig zu bleiben gegenüber unserer Umwelt müssen wir schlicht und ergreifend ab einem bestimmten Punkt Dinge annehmen, hinnehmen, als gegeben betrachten. Der radikalste Skeptiker kann im schlimmsten Falle aber schlicht alles in Frage stellen, womit er sich die Grundlage für eine Entscheidung nehmen würde. Damit wäre er Handlungsunfähig – und/oder reif für die Klapse.
Das Freiheit und Sicherheit durchaus zusammengehören als zwei Seiten der selben Medaille denke ich auch schon länger – hier sehr schön erarbeitet. Letztlich wird man sich jeden Tag darum bemühen müssen, beide Seiten im Gleichgewicht zu halten. Womöglich wollte Benjamin Franklin mit seinem berühmten Satz „Diejenigen, die für ein wenig vorübergehende Sicherheit grundlegende Freiheiten aufgeben, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.“ auch genau darauf hinweisen.
Yoho, Pirat