Es wurden sowohl von mir wie auch von Jörg und David bereits Aussagen über das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum gemacht, die wir wenig bis gar nicht begründet haben. Um mich diesem Thema vorsichtig anzunähern, möchte ich gerne ein Gedankenexperiment durchführen, dessen Ableitung keinerlei Wirklichkeitsbezug beansprucht. Die Rückkoppelung mit der Wirklichkeit möge dann jeder Leser für sich selbst durchführen.
Dazu möchte ich meine minimalistische Definition von Widerspruchsfreiheit verwenden, die selbst wiederum nur ein Werkzeug ist, und nicht Wirklichkeit darstellt. Da ich keine Partei ergreifen möchte, gehe ich von der Gleichmächtigkeit der beiden Religionen aus, verfolge also eher einen komplementären Ansatz, als zu behaupten, dass eine Religion die andere vollständig umfasse (also eine Meta-Religion für die andere sei).
In meinem Gedankenexperiment nehme ich die Widerspruchsfreiheit der beiden Religionen an. Diese gilt nach meiner Definition zwar streng genommen nur für formale Systeme, aber da ich nicht den Anspruch erhebe, in meinem Experiment die Wirklichkeit nach zu spielen, ist es ein zulässiger Schritt. Dieser hat auch den netten psychologischen Nebeneffekt hat, dass ich nicht davon ausgehen muss, dass irgendjemand aufgrund mangelnder Fähigkeiten oder fragwürdiger Motive in einem inkonsistenten System sitzt, einem Haus, durch dessen Dach es in Strömen regnet.
Da Judentum und Christentum offensichtlich nicht völlig identisch sind, haben wir es folglich mit zwei Systemen zu tun, die sich auf den ersten Blick gegenseitig widerlegen, bzw. die aus einer Innensicht heraus das jeweils andere System als widersprüchlich wahrnehmen. Das liegt nach meiner Definition der Widersprüchlichkeit aber in der Natur der Unterschiedlichkeit, und sagt nichts über die Konsistenz der Systeme selbst aus.
In diesem Gedankenexperiment würden sich die beiden Religionen nur ins eigene Fleisch schneiden, würden sie die jeweils andere angreifen. Denn damit würden sie ihre eigene Widerspruchsfreiheit und damit Integrität in Frage stellen.
Ich sage nicht, dass es so ist, wie im Gedankenexperiment beschrieben. Ich sage nur, dass es eine Möglichkeit (ein Aspekt) wäre, wie man auf die Wirklichkeit sehen könnte. Und in meiner persönlichen Rückkoppelung mit der Wirklichkeit erklärt dieses Bild vieles, was ich vorher nicht verstehen konnte. Jeder Leser hat aber seine eigenen Assoziationen mit der Wirklichkeit und kann daher auch zu einem völlig anderen Ergebnis kommen.
Allerdings werden durch das Experiment zugleich wichtige Fragen aufgeworfen:
- Wo ist in dem Gedankenexperiment die Kontinuität zwischen Judentum und Christentum?
- Wie könnte eine Meta-System für beide Religionen aussehen, dass eine Kommunikation zwischen beiden doch noch möglich macht?
Zu 2.) – Das Christentum versteht sich ja schon als das „Meta“-System; Jesus kam, um das Gesetz und die Prophetien des Alten Testamentes zu erfuellen, er war (aus christlicher Sicht) der verheissene Messias. Moses und Elia erschienen Jesus. Die Vorvaeter werden ja in Hebraer 11 zitiert als gute Glaeubige. Also, laut Christentum gehen die beiden natlos ineinander ueber.
Wenn Du ein anderes Metasystem „konstruieren“ willst, so ginge das ja im Rahmen der heutigen „Multikulti“-Gedankenexperimente. „Alle Religionen sind letztlich gleich“ etc. Dann wuerdest Du beiden Religionen einen ihnen fremden Humanismus aufstuelpen. Dass waere dann eine Fremd-Religion. Das geht dann nur, wenn du „neue Grundannahmen“ nimmst, also die Grundannahmen des Humanismus, und die Grundannahmen des Judentums und des Christentums ablehnst. (Also z.B. „Die Bibel ist das Wort Gottes“ muesstest Du dann ablehnen).