Das binäre Prinzip

Das Prinzip, das das abendländische Denken meinem jetzigen Kenntnisstand nach am weitestgehenden und folgenreichsten geprägt hat, kann folgendermaßen notiert werden:

a ∨ ¬ a = 1

Es handelt sich um eine aussagenlogische Formel, die besagt, dass für jede Aussage a gilt: Entweder ist a, oder (∨) das Gegenteil (¬) von a wahr (= 1). Bei dieser Aussage handelt es sich um eine Tautologie, also eine Aussage die in jedem Falle wahr ist, völlig unabhängig davon, was man für a einsetzt. Das bequeme an Tautologien ist, dass man nichts falsch machen kann, die Gesamtaussage bleibt immer richtig.

Wendet man diese Formel auf verschiedene Bereiche des Lebens an, so könnte man für a z.B. folgende Aussagen einsetzen:

  • Ein Stein fällt immer nach unten.
  • Es regnet.
  • Das Wetter ist schön.
  • Ausländer müssen sich hier an uns anpassen.
  • Ich werde nach dem Tod in den Himmel kommen.
  • Person X ist ein Terrorist.
  • Ich bin für die Geschehnisse im Dritten Reich verantwortlich.

Jede beliebige Aussage kann in dieses Schema eingesetzt werden. Und das Erstaunliche ist: Völlig unabhängig vom Grad der Sinnhaftigkeit von a oder der Unterteilung in a und ¬ a, ist die Gesamtaussage immer richtig. Das verleitet zu der Auffassung, man könne die Welt bezüglich jeder Frage in zwei Gegensätze zerlegen. Und weil es sich ja um eine Tautologie handelt, meint man damit den gesamten möglichen Wahrheitsbereich bezüglich einer bestimmten Frage erfasst zu haben. Man muss sich nur noch zwischen einer der beiden Möglichkeiten entscheiden, und kann sich dann bezüglich der Wahrheit in diesem Punkt in maximaler Sicherheit wiegen.

Dass dies eine trügerische und gefährliche Sicherheit ist, kann der Leser vielleicht schon erahnen. Die Auseinandersetzung mit den Folgen des universalen Einsatzes dieses binären Prinzips in unserer Kultur ist Ausgangspunkt dieses Blogs.

http://de.wikipedia.org/wiki/Tautologie_%28Logik%29
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10 Kommentare zu Das binäre Prinzip

  1. Jörg sagt:

    Stimmt das binäre Prinzip auch noch im Bereich der Quantenphysik? Das Licht ist ja nicht Teilchen oder Nicht-Teilchen sondern beides und zeigt sich nur je nach Art, es zum Untersuchungsgegenstand zu machen, mal so und mal so. Ebenso gibt es Quantencomputer, die nicht mehr auf der binären Logik beruhen. Vielleicht beschreibt das binäre Prinzip die Wirklichkeit nur ab einer bestimmten Abstraktionsebene korrekt bzw. ist dafür sachgemäß.

  2. Immanuel sagt:

    Das Licht sprengt das binäre Prinzip, richtig. Hier gilt nicht „entweder oder“, sondern „sowohl als auch“ (daher übrigens auch das verfälschte Hamlet-Zitat „Sein und Nicht-Sein“ als Titel des Blogs 😉 ). Das Licht ist also Teilchen und Nicht-Teilchen.

    Das binäre Prinzip ist halt nur so mächtig wie die Bits und Bytes im klassischen Rechner: Jeder Zustand des Arbeitsspeichers stellt eine Zahl dar, womit wir eine einfache Aufzählung für alle möglichen Zustände des Arbeitsspeichers durchführen können. Die Anzahl der möglichen Zustände eines unendlichen Arbeitsspeicher ist demnach abzählbar unendlich. Probleme mit überabzählbar unendlichen Mengen sind mit dem binären Prinzip (das abzählbar mächtig ist) also schwer zu untersuchen.

  3. David sagt:

    Die Formel „a ∨ ¬a = 1“ besagt eigentlich *nicht*, dass *entweder* a oder ¬a gilt. Sondern dieses „tertium non datur“ besagt,
    dass durch eine Aussage und ihre Negation bereits alle Möglichkeiten abgedeckt (und kein dritter Fall möglich) ist. Diese Formel erlaubt dagegen durchaus, dass sowohl a und ¬a gelten (was allerdings durch die Formel „a ∧ ¬a = 0“ verboten wird).

    Das binäre Prinzip gilt für zweiwertige Logiken, aber nicht für mehrwertige Logiken.
    Weder die zweiwertige noch irgendwelche mehrwertigen Logiken sollte man als allgemeingültige (universelle) Naturgesetze ansehen; beide Typen haben je nach Anwendung ihre Berechtigung.

  4. Immanuel sagt:

    Hallo David, du hast sehr gut aufgepasst. Es ist richtig, dass noch das weitere Komplementärgesetz „a ∧ ¬a = 0“ benötigt wird, um das „entweder oder“ zu bekommen. Bisher hat es noch niemand moniert, was vielleicht darauf schließen lässt, dass es sich im Sprachgebrauch schon so manifestiert hat, dass es nicht einmal explizit erwähnt werden muss, und es doch alle im Kopf haben.

    Mit mehrwertigen Logiken habe ich in der Praxis noch nicht viel zu tun gehabt. Mich würde sehr interessieren, in welchem Verhältnis die zweiwertige Logik zu mehrwertigen Logiken steht, ob mehrwertige Logiken z.B. mächtiger sind. Wenn du darüber etwas weißt oder interessante Quellen dazu kennst, schieß los.

    Weder die zweiwertige noch irgendwelche mehrwertigen Logiken sollte man als allgemeingültige (universelle) Naturgesetze ansehen; beide Typen haben je nach Anwendung ihre Berechtigung.

    Erlaube mir, deine Aussage leicht umzuformulieren: Weder das abgeschlossene System der zweiwertigen noch irgendwelche abgeschlossenen Systeme der mehrwertigen Logik sollte man als alles umfassende, universelle (und damit offene) Systeme ansehen; beide Typen von abgeschlossenen Systemen haben je nach Anwendung ihre Berechtigung.
    Ich stimme dir hundertprozentig zu und bin sogar der Meinung, dass deine Aussage auf alle abgeschlossenen Systeme (und damit nach Gödel nicht alles umfassende Systeme) angewendet werden kann und sollte.

  5. Markus sagt:

    Lieber Immanuel,

    ich glaube zweierlei:
    1. Die binäre Logik ist, insbesondere in Bezug auf unsere korrekten Beschreibungen der Realität, einschließlich moralischer Sätze, immer und alternativlos richtig. Dafür hat schon Aristoteles in seiner Metaphysik sehr klar argumentiert und ich muss mich hier vollumfänglich ihm anschließen – auch und gerade nach ca. 2400 Jahren Philosophiegeschichte. Somit ist beispielsweise „Unentschiedenheit“ kein dritter Wahrheitswert, sondern entweder ein epistemisches Problem – WIR wissen es nicht – oder eine Konsequenz einer Fehldeutung der bspw. physikalisch beschriebenen Realität.
    Ein Beispiel ist das Welle-Korpuskel-Problem: Wir haben empirische Befunde. Diese können als solche gar nicht widersprüchlich sein, denn dies wäre ein Kategorienfehler. Die scheinbaren Widersprüche würden nur innerhalb der Theorie, d.h. eines Beschreibungssystems, autreten. Jedoch m.E. nur dann, wenn sie fehlerhaft konstruiert sind (bspw. „Etwas ist zugleich Welle und Nichtwelle“, was kein verständiger Physiker sagen würde). Tatsächlich gibt es zwischen Welle und Teilchen keinen logischen Widerspruch (siehe auch De-Broglie-Beziehung).
    2. ABER: Die binäre Logik kann ebenso , absichtlich oder nicht, massiv manipulativ verwendet werden. Und zwar v.a. durch sogenannte Präsuppositionen, d.h. dass mit einer scheinbaren logischen Alternative eine ggf. falsche Behauptung eingeschleust und suggeriert wird. Ein Beispiel ist: „Hat Hans aufgehört, seine Frau zu schlagen, oder nicht?“ In dieser Pseudoalternative lauert eine manifeste Aussage, nämlich dass Hans seine Frau geschlagen habe – aber diese Aussage steht gar nicht zur Diskussion, sondern wir dem Diskurs aufgedrängt.
    Und noch was: Ist die Alternative „dass Hans aufgehört hat seine Frau zu schlagen, oder nicht“ unentschieden oder unentscheidbar? Eher nicht. Eine Qualifikation als „Unentscheidbarkeit“ wäre irreführend. Es ist wohl eher richtig zu sagen, dass die Alternative auf einer falschen Voraussetzung beruht.

    Das heißt, hier hilft nur eine genaue Analyse unserer Aussagen und Begriffe und das offenlegen einfacher, klarer Sachverhalte. Was verstehen wir wirklich unter dem Ausdruck „xyz“? Auf welchen Tatsachenbehauptungen beruht eine bestimmte (scheinbare?) logische Alternative? Sind diese Tatsachen wirklich wahr? Hat Hans seine Frau jemals geschlagen?

  6. Jörg sagt:

    Das Licht „ist“ (auf der ontologischen Ebene) nicht Teilchen und Nicht-Teilchen gleichzeitig. Es gibt keinen einzigen Fall, wo es gleichzeitig als Welle und Teilchen auftritt. Das einzige was wir sagen können, ist, dass es sich uns je nach Versuch einmal so und das andere mal so zeigt (epistemologische Ebene). Meiner Meinung nach zeigt das, dass wir nicht wissen, was Licht „ist“ (ontologische Ebene), es vielleicht auch nie wissen werden, weil sich die Wirklichkeit vor uns zu verbergen scheint. Das Wesen des Lichts liegt jenseits unserer Erkennbarkeit und unseres Wissens. Aber: niemand wird leugnen, dass dem Licht tatsächlich ontologischer Charakter zukommt! Wir haben somit ein Beispiel einer (sogar geschöpflichen) Wirklichkeit, die sich von uns in ihrem an sich sein nicht erfassen lässt aber sich uns gegenüber übersetzt und dies wohl nur in für uns komplementärer Weise kann.

    Daraus folgt: Es ist (va im Kontakt mit Transzendenz, Unendlichkeit) mit komplementären Phänomen auf der uns allein zugänglichen epistemologischen Ebene zu rechnen und dies zu akzeptieren, auch wenn sie uns widersprüchlich erscheinen – denn die Wirklichkeit hat immer recht, nicht unsere Systematisierung von ihr

  7. Immanuel sagt:

    Hallo Markus, ich finde es toll, dass du dazugestoßen bist!
    Zu 1.: Würdest da also sagen (im Gegensatz zu Jörg), dass unsere binäre Logik durch empirische Schlüsse aus der Wirklichkeit sich als „wahr“ herausgestellt hat? Und demnach mathematisch schlüssige (widerspruchsfreie) Ansätze wie mehrwertige Logiken entsprechend „falsch“ sein müssen?
    Zu 2.: Bezüglich des hohen Missbrauchspotentials der zweiwertigen Logik stimme ich mit dir zu gefühlten mehr als 100% überein. Sicherlich ist darin auch ein Grund für meine Auseinandersetzung damit zu sehen.

    Das heißt, hier hilft nur eine genaue Analyse unserer Aussagen und Begriffe und das offenlegen einfacher, klarer Sachverhalte. Was verstehen wir wirklich unter dem Ausdruck “xyz”? Auf welchen Tatsachenbehauptungen beruht eine bestimmte (scheinbare?) logische Alternative? Sind diese Tatsachen wirklich wahr? Hat Hans seine Frau jemals geschlagen?

    Die von dir geforderte gründliche Reflexion ist leider nur für sehr, sehr einfache Aussagensysteme durchzuführen. Alles was mit der Wirklichkeit auch nur annähernd zu tun hat, entzieht sich damit einer gründlichen Reflexionsmöglichkeit (denn man müsste über die Reflexion der Reflexion der Reflexion … reflektieren).

  8. Markus sagt:

    Lieber Immanuel, danke für den freundlichen Gruß!
    Noch ein paar Erläuterungen, die auf Deine Erwiderungen eingehen sollen:
    1. Eine Logik kann sich, meine ich, aus prinzipiellen Gründen niemals vor einem empirischen Tribunal – wie W.v.O. Quine gedeutet werden könnte – als wahr oder falsch herausstellen. Ich folge da eher Kant, der „die Vernunft“ als oberste Richterin der Theoriebildung, aber auf Grundlage von Empirie, ansah. (Allerdings ist für mich Vernunft nochmals was grundlegenderes, als für Kant.)
    2. Welche Logik in toto die „wahre“ ist, läßt sich, ganz streng genommen, auch nicht mittels des Kriteriums der formallogischen Widerspruchfreiheit entscheiden, weil diese „Widerspruchsfreiheit“ wieder etwas ist, das nur vor dem Hintergrund einer bereits gegebenen Logik einen Sinn besitzt. Wir wären entweder systemimmanent oder wir bräuchten eine Metalogik. D.h. eine solche Debatte über bloße Formalsysteme wird recht schnell unfruchtbar.
    3. Die „Wahrheit“ einer (meiner Meinung nach der binären) Logik ergibt sich aus dem, was früher Philosophen „Wesensschau“ genannt haben: Die intuitive Einsicht in die Unmöglichkeit des Gegenteils bei hartem Reflektieren darüber. Wie ich das letzte Mal schrieb, hat dies Aristoteles in der Metaphysik m.E. überzeugend dargelegt.
    4. Eine empirische oder metaphysische Wahrheit ist, so scheint mir, etwas ganz Andersartiges als eine formale „Wahrheit“, die ich lieber „Richtigkeit“ nenne. Im Ersten geht um das, was der Fall ist, im Zweiten darum, dass Regeln des Denkens eingehalten werden. Folglich ist in Theorien oder Aussagesystemen formale Richtigkeit (Konsistenz) ein zwar notwendiges Kriterium für Wahrheit, aber sie kann niemals ein echtes, hinreichendes und substanzielles Wahrheitskriterium sein.
    5. Es gibt auch nicht-formallogische Widersprüche! Dies sind Sätze, die metaphysische Unmöglichkeiten ausdrücken. Beispiele könnten sein: „Eine Ursache fand zeitlich nach ihrer Wirkung statt“. „Jemand ohne Willensfreiheit kann moralisch schuldig sein“. „Eine Oberfläche kann gleichzeitig und an der gleichen Stelle rot sein und blau sein“. Um diese Widersprüche festzustellen, hilft keine formallogische Analyse, sondern man muss wissen, was eine Ursache und eine Wirkung sind, man muss wissen, was Schuld und Freiheit sind, und man muss wissen, was rot und blau ist. Dieses Wissen beruht auf einer intuitiven Wesensschau.
    6. Ja, die Schwierigkeit, die Du ansprichst, ist natürlich auf den ersten Blick immens! Aber gerade in der richtigen Vereinfachung oder Modellbildung bzw. im Stellen der richtigen Fragen, die das Wesentliche auf den Punkt bringt, besteht die – m.E. oft lösbare, aber nicht selten hohe Kunst – in der philosophischen oder auch naturwissenschaftlichen Forschung.
    Einige solcher, besonders wichtiger, Fragen sind:

    – Ist das Geistige (Bewusstsein) aus Nichtgeistigem hervorgegangen?
    – Existiert ein persönlicher Gott?
    – Gibt es objektiv Gutes und Böses?
    – Sind wir tatsächlich moralisch für unser Tun und Lassen verantwortlich?

    Die Semantik dieser Fragen ist uns wahrscheinlich bereits hinreichend klar!

  9. Immanuel sagt:

    @Jörg

    Es ist (va im Kontakt mit Transzendenz, Unendlichkeit) mit komplementären Phänomen auf der uns allein zugänglichen epistemologischen Ebene zu rechnen und dies zu akzeptieren, auch wenn sie uns widersprüchlich erscheinen – denn die Wirklichkeit hat immer recht, nicht unsere Systematisierung von ihr.

    Amen. (kam mir spontan in den Sinn)

  10. Pingback: Des Pudels Kern | Sein und Nicht-Sein

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